Traumaheilung über emotionale Abreaktion: Chance oder Gefahr?
Emotionen freilassen, endlich einmal „alles rauslassen“ – so wird emotionale Abreaktion in manchen therapeutischen Richtungen als zentraler Heilungsweg beschrieben. Doch funktioniert Traumaheilung wirklich so einfach? Die Antwort ist: Es kommt darauf an. Lass uns gemeinsam etwas tiefer eintauchen, um zu verstehen, wann emotionale Abreaktion hilfreich sein kann – und wann sie mehr schadet als hilft.
Was ist emotionale Abreaktion?
Emotionale Abreaktion bedeutet, aufgestaute Gefühle und innere Spannungen explosiv zu entladen: Schreien, Weinen, Zittern, Schlagen auf Kissen, heftiges Atmen. Die Idee dahinter: Unterdrückte Emotionen werden körperlich freigesetzt, dadurch könne Heilung einsetzen. Gerade bei Menschen, die lange gelernt haben, ihre Gefühle zu unterdrücken, kann dieser Zugang erste Kontaktflächen schaffen, um überhaupt wieder ins Fühlen zu kommen.
Wenn Gefühle „verpanzert“ sind
Wer in Kindheit oder Jugend ständig das Signal erhielt: „Reiß dich zusammen“, „Stell dich nicht so an“, „Gefühle sind Schwäche“, hat oft eine starke körperliche und emotionale Blockade aufgebaut. Das Nervensystem schützt sich durch Erstarrung oder chronische Anspannung. In solchen Fällen kann manchmal ein stärker dosiertes, gehaltenes Zulassen von Emotionen überhaupt erst wieder einen Zugang zu Gefühlen schaffen.
Durch sanfte körperorientierte Techniken, Regulation über den Atem und die Arbeit mit inneren Bildern werden die verpanzerten Emotionen zusätzlich langsam berührt und nach und nach ins Bewusstsein geholt. Es entsteht Kontakt zu dem, was lange abgespalten war.
Window of Tolerance
Heftige emotionale Abreaktion birgt Risiken. Hier kommt das Konzept des Window of Tolerance ins Spiel. Es beschreibt jenen Bereich, in dem das Nervensystem in einer regulierten Balance arbeiten kann: weder übererregt (Hyperarousal) noch untererregt (Hypoarousal). Innerhalb dieses Fensters können wir Emotionen spüren, ohne davon überwältigt zu werden.
Menschen mit Trauma, Hochsensibilität oder chronischer Erschöpfung haben oft ein eher kleines Window of Tolerance. Intensive emotionale Entladung bringt sie schnell an ihre Belastungsgrenzen:
- Übererregung: Herzrasen, Panik, Kontrollverlust.
- Untererregung: Dissoziation, Gefühllosigkeit, Abspaltung.
Ist dann eine Abreaktion zu heftig oder wird nicht sorgfältig begleitet, kann sie das Nervensystem destabilisieren statt heilen. Dann wird nicht Integration gefördert, sondern Retraumatisierung ausgelöst.
Was passiert im Nervensystem?
Bei heftiger Abreaktion werden Stresshormone wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol ausgeschüttet. Das sympathische Nervensystem schaltet auf Alarm: Kampf oder Flucht. Kurzzeitig fühlt sich diese Entladung befreiend an. Doch der Körper kann diese Zustände regelrecht „lernen“: Immer wieder wird durch emotionale Explosionen eine künstliche Erregung erzeugt, die kurzfristig Spannungsreduktion bringt.
Gefahr der emotionalen Erregungssucht
Hier entsteht eine Dynamik, die ähnlich wie bei ungesunden Beziehungsmustern wirkt:
Ein ständiges Auf und Ab von Spannung und Entladung, wie man es auch aus destruktiven Streitmuster in Partnerschaften kennt. Die Dramaschleife: Konflikt, Eskalation, Versöhnung, wieder Konflikt. Das Nervensystem empfindet diese Aufregung irgendwann als gewohnten Zustand. Stille, Ruhe oder Stabilität wirken dann fremd, manchmal sogar bedrohlich oder „langweilig“.
Diese Form der emotionalen Erregung kann sich regelrecht suchthaft verselbständigen. Es wird immer wieder Drama erzeugt, um den körperlich vertrauten Erregungszustand zu erleben. In der Therapie sprechen wir hier von dysfunktionaler Selbstregulation über Reizsteigerung
Wie kann Kontakt mit starken Gefühlen und Heilung achtsam gestaltet werden?
Sanft. Schritt für Schritt.
Wahre Heilung geschieht nicht über maximale Entladung, sondern über Integration. Hypnose, Embodiment und traumasensible Körperarbeit setzen hier an:
- Über sanfte Körperwahrnehmung wird das Nervensystem eingeladen, schrittweise größeres Erregungsausmaß zu tolerieren.
- Innere Bilder, Ressourcenanker und sichere Imaginationsräume helfen, Emotionen dosiert zuzulassen.
- Der Atem wird zur Brücke zwischen Anspannung und Entspannung.
- Kleine Impulse von Emotion werden gehalten, nicht entladen.
Heilung bedeutet, dem Nervensystem neue Erfahrungen von Sicherheit und Regulation zu ermöglichen. Nicht der große emotionale Ausbruch, sondern die feine Arbeit an innerer Stabilität ist der nachhaltige Weg.
Emotionale Abreaktion kann also ein Einstieg sein, wenn Gefühle lange unterdrückt wurden. Doch ohne sichere Begleitung birgt sie Risiken von Überforderung, Dissoziation und ungesunden Erregungsschleifen. Traumasensible Hypnose, Embodiment und Nervensystemarbeit setzen stattdessen auf sanfte Regulation, Stabilität und Integration. Damit Loslassen möglich wird, ohne erneut im Schmerz gefangen zu sein.