Gerechtigkeit! Was uns weiter in Verstrickung hält, obwohl wir frei sein wollen
Wir alle haben ein tiefes, oft unbewusstes Gespür für Gerechtigkeit. Bereits kleine Kinder schreien empört „Das ist unfair!“, lange bevor sie komplexe Zusammenhänge verstehen. Gerechtigkeit gibt Halt. Sie sichert unser Gefühl von Verbindung, Zugehörigkeit, innerer Ordnung.
Wenn wir verletzt wurden – besonders als Kind – und es gibt keine Anerkennung des Schmerzes, keine Entschuldigung, keine Wiedergutmachung, entsteht wie eine Art inneres Vakuum.
Und dieses Vakuum hält fest. An der Vergangenheit und auch an den Menschen, die das verursacht haben.
Verstrickung.
Der verzweifelte Wunsch nach Anerkennung
Viele meiner Klient*innen kommen mit diesem Gefühl: „Ich komme irgendwie nicht los, ich bin wie gefangen.“
Sie sind längst erwachsen, leben ein eigenes Leben – und doch kreisen sie innerlich um eine Mutter, einen Vater, einen Partner oder eine andere Person aus der Vergangenheit. Nicht, weil sie vergeben wollen. Sondern weil sie endlich gesehen werden wollen.
Sie wünschen sich:
- Dass jemand sagt: „Es war nicht deine Schuld“
- Dass jemand bereut
- Dass derjenige versteht, was sein Verhalten angerichtet hat
- Vergeltung
Und genau das passiert in der Regel nicht.
Doch was ist mit den Opfern?
Was geschieht mit jenen, die verletzt wurden – emotional, körperlich oder seelisch – und nie gehört wurden? Die nie eine Entschuldigung erhalten haben?
Sie tragen den Schmerz weiter. Allein.
Denn viele dieser Erfahrungen lassen sich nicht „beweisen“. Nicht zur Anzeige bringen. Nicht rückgängig machen. Sie bleiben im Körper, im Nervensystem, im Inneren.
Dieser Schmerz sitzt sehr tief Und viele suchen unbewusst ein Leben lang nach Gerechtigkeit – manchmal sogar mehr nach Gerechtigkeit als nach Heilung.
Warum Du Dich selbst verantwortlich gemacht hast
Ein Kind erlebt keine Trennung zwischen sich und der Welt.
Wenn etwas Schlimmes passiert, denkt es nicht: „Das war falsch von Mama oder Papa.“
Sondern: „Ich war nicht gut genug.“
Diese innere vermeintliche Logik basiert auf menschlichen Überlebensstrategien, die wir entwickeln um in einem sozialen Verbund nicht ausgeschlossen zu werden: Es ist für den schwächeren Teil des Verbundes sicherer, sich anzupassen um zu überleben.
Viele meiner Klient*innen tragen bis heute diesen unbewussten Glaubenssatz in sich:
„Wenn ich nur richtig bin, passiert mir sowas nicht mehr.“
Die Warum-Falle. Analysieren bis der Arzt kommt.
Ein weiterer Versuch, den Schmerz zu vermeiden, ist die Warum-Frage und alle Details im Verstand bis ins Kleinste zu zerlegen:
- Warum hat sie das getan?
- Warum habe ich das verdient?
- Warum ist mir das passiert?
Die Warum-Frage, führt selten zu einer echten Antwort.
Stattdessen hält sie in der Vergangenheit fest. Solange ich mit dieser Frage beschäftigt bin, muss ich nicht fühlen, wie tief der Schmerz wirklich sitzt.
Vorgänge zu verstehen ist wichtig und gut. Manche Dinge entziehen sich aber dem Verständnis und können nie wirklich bis ins letzte Detail erklärt werden. Das permanente Kreisen im Kopf kostet Lebenszeit. Kostet Kraft. Und wir verlieren den Kontakt zu uns selbst.
Der Preis für die Hoffnung auf Gerechtigkeit
So verständlich und menschlich der Wunsch nach Anerkennung und Gerechtigkeit auch ist – er kann zur emotionalen Kette werden.
Denn solange ich darauf warte, dass der andere einsieht, was er mir angetan hat, bleibe ich an ihn gebunden.
Mein innerer Frieden wird abhängig vom Verhalten einer Person, die sich vielleicht niemals verändern wird.
„Ich kann erst loslassen, wenn…“
„Ich kann mich erst öffnen, wenn…“
„Ich kann erst heilen, wenn…“
Diese Wenn-dann-Muster blockieren Entwicklung. Sie halten uns in einem permanenten Alarmzustand. Sie verhindern Bewegung und Lebendigkeit.
Was hilft wirklich?
Das Erkennen und Anerkennen des eigenen Schmerzes.
Nicht im Außen, sondern im Inneren.
Das Bezeugen durch eine wohlwollende, mitfühlende Begleitung.
Ein Mensch, der sagt: „Ja, es war schlimm. Und du warst damit zu lange allein.“
Hypnose und Embodiment können hier kraftvolle Wege sein, um Kontakt mit dem eigenen inneren Erleben herzustellen – ohne Überforderung.
In einem Zustand tiefer Entspannung gelingt es oft, das Nervensystem zu regulieren, die Perspektive zu weiten und dem inneren Kind liebevoll zu begegnen.
Polyvagal orientierte Körperarbeit hilft, aus dem Überlebensmodus (Kampf, Flucht, Erstarrung) herauszufinden – und sich selbst wieder zu spüren.
Und dann… kommt die Akzeptanz
Die Wahrheit ist:
Vielleicht wirst du nie die Entschuldigung bekommen, die du verdienst.
Vielleicht wird der Mensch, der dich verletzt hat, nie erkennen, was er getan hat.
Vielleicht wird das „Warum“ nie beantwortet.
Und trotzdem kannst du frei sein.
Nicht, weil du vergisst. Sondern weil du dich entscheidest, dich selbst nicht länger an das zu binden, was war.
„Vergebung bedeutet nicht, dass das, was war, in Ordnung war.
Vergebung bedeutet, dass ich mich entscheide, mich nicht länger daran zu binden.“
Dein Wunsch nach Gerechtigkeit ist richtig.
Dein Bedürfnis nach Anerkennung ist gesund.
Aber du darfst deinen Heilungsweg nicht davon abhängig machen, dass jemand anderes etwas erkennt, was er vielleicht nicht sehen will oder kann.
Du darfst deinen Schmerz selbst bezeugen.
Du darfst dich innerlich befreien.
Du darfst – endlich – in dein eigenes Leben zurückkehren.